Die Reise ins winterliche Moskau, die Carola Lehmann in den Neunzigern im Rahmen ihres Slawistikstudiums antritt, um einen Sprachkurs zu besuchen, stellt sich als Wendepunkt heraus. Denn weitaus interessanter als die geregelten Lerneinheiten sind die unmittelbaren Eindrücke und Erfahrungen, die sie beim stundenlangen Umherstreifen auf Moskaus Straßen sammelt – die langen Schlangen vor den Geschäften, dieser skurrile Zustand im gesellschaftlichen Umbruch. Kurz zuvor hat sie bereits ländliche Gebiete in den USA bereist, wo Teenager ihre freie Zeit damit verbringen, mit dem Auto auf Parkplätzen im Kreis zu fahren, Shopping-Malls das Stadtbild bestimmen und Hausmüll in den Gärten brennt. Durch den Kontrast der Eindrücke entdeckt sie den öffentlichen Raum als Ort, in dem sich gesellschaftliche Verhältnisse manifestieren.

Folgerichtig wechselt sie im Anschluss an das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, das als geeigneter Ort erscheint, um sich ästhetisch zu positionieren. Dort kommt sie mit aktivistischen Formen des Theaters und der US-amerikanischen Performance-Kultur in Berührung: Eine richtungsweisende Entdeckung, denn Carola Lehmanns Theater- und Performanceprojekte sind geprägt von Menschen wie dem New Yorker Aktivisten William C. Talen, der als Reverend Billy seit Mitte der 1990er Jahre die Menschen mit seinen konsumkritischen Botschaften irritiert, oder Annie Sprinkle, die in expliziten Solos ihre Erfahrungen als Prostituierte in Performancekunst übersetzt. Lehmanns Arbeit will in die Wirklichkeiten außerhalb des Theaterraums intervenieren – oder diese Wirklichkeiten in ihren ganz subjektiven, alltäglichen, manchmal auch ziemlich absonderlichen Erscheinungsformen in das Theater hineinholen.

Im Jahr 2005, nach einer zweiten USA-Reise, einem DAAD-Studienaufenthalt, während dem sie die Protagonist*innen der Performance-Kunst trifft und interviewt, kuratiert sie das Festival „Cross The Line“ und lädt US-Performer*innen an den Mousonturm in Frankfurt ein. Anders als „Reverend Billy & The Church of Life After Shopping“, die ihre Ziele in einem konkreten Glaubensbekenntnis zum Ausdruck bringen, läuft Carola Lehmann unprogrammatisch, mit offenen Augen und viel Humor durch die Welt: Sie lädt Fremde zu spontanen Aktionen ein und befragt Menschen in Interviews, die später in ihre Bühnenarbeiten einfließen.

Dabei bleibt ihr methodisch naiver Blick beispielsweise an der AfD-Zentrale am Lützowplatz hängen, wo sie im Januar 2017, am Tag des „Inauguration Day Protest – No to global Trumpism“, das Reenactment einer theatralen Aktion der Yippies initiiert: 1967 vermessen die Yippies das Pentagon, um es anzuheben und ihm alle nationalistischen Geister auszutreiben; das gleiche versucht Frau Lehmann mit der „Vermessung der AfD-Zentrale“. Im Jahr zuvor beginnt sie mit „Beyond Visibility“ eine Bühnenarbeit, das die digitalen Spuren, die von ihr im Netz zu finden sind, untersucht. Spielerisch analysiert sie den Film „Staatsfeind Nr. 1“ in Hinblick auf die vom Potential digitaler Überwachung aufgeworfenen Fragen.

Für „Hotel Arabia“ trifft sie pakistanische Arbeiter in den Arbeiterlagern Dubais und redet mit ihnen über die Bedeutung von Kunstformen wie Gesang und Tanz in ihrem Leben. Sie erweitert das Projekt um eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Migration und Tourismus, bezieht Filme ein, die für Dubai als Reiseziel werben und entwickelt im Rahmen eines Arbeitsstipendiums den Videoessay „Isolierte Räume“. Die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre, und die politischen Implikationen dieser Grenzziehung, sind das Thema ihres autobiografischen Projekts „Reisen zu Frau Stirnimann“, in dem sie auf ihre Kindheit zwischen hessischer CDU und Nogger-Eis zurückblickt.

Alle Aktionen und Projekte von Carola Lehmann haben gemeinsam, dass sie den reibungslosen Ablauf des Alltags stören wollen, dass sie Fragen aufwerfen, an denen sich die Wirklichkeit bricht. Denn die Wirklichkeit sichtbar heißt, sie kenntlich zu machen und sie gleichzeitig in Frage zu stellen.

Oder: Um es mit den Worten vom Mastermind der Yippie-Bewegung Jerry Rubin zu formulieren (die allerdings ebenso gut von Bertolt Brecht stammen könnten): „Befremde. Je mehr Menschen du befremdest, desto mehr Menschen erreichst du. Wenn du die Menschen nicht befremdest, dann erreichst du sie nicht.“